Die
Stimme der Vernunft 7
I
Auf der Lichtung stand Falwick in voller Rüstung, ohne Helm, den Ordensmantel über die Schultern geworfen. Neben ihm hielt ein kräftiger, bärtiger Zwerg mit Fuchsmantel, Kettenhemd und einer Kettenhaube aus kleinen Eisenringen die Arme vor der Brust verschränkt. Tailles ging ohne Rüstung, nur im kurzen gesteppten Wams, langsam auf und ab und holte von Zeit zu Zeit mit dem blanken Schwert aus.
Der Hexer zügelte das Pferd und sah sich um. Ringsum blinkten die Halbpanzer und die flachen Eisenhüte der Söldner, die die Lichtung umringten und mit Lanzen bewaffnet waren.
»Verdammt«, murmelte Geralt. »Ich hätte es mir denken können.«
Rittersporn wendete das Pferd und fluchte leise beim Anblick der Lanzenträger, die ihnen den Rückweg abschnitten.
»Worum geht es, Geralt?«
»Um nichts. Halte die Zunge im Zaum und misch dich nicht ein. Ich versuche, hier irgendwie rauszukommen.«
»Worum geht es, frage ich? Wieder eins von deinen Abenteuern?«
»Halt den Mund.«
»Es war doch ein dummer Einfall, in die Stadt zu reiten«, stöhnte der Troubadour und blickte zu den nahen, über den Bäumen schon sichtbaren Türmen des Heiligtums hinüber. »Wir hätten bei Nenneke sitzen und die Nase nicht aus den Mauern stecken sollen . . .«
»Halt den Mund, hab ich gesagt. Du wirst sehen, alles klärt sich auf.«
»Sieht nicht so aus.«
Rittersporn hatte recht. Es sah nicht so aus. Tailles, der mit dem blanken Schwert herumfuchtelte, ging weiterhin auf und ab, ohne in ihre Richtung zu schauen. Die Söldner, auf ihre Lanzen gestützt, sahen gelangweilt und gleichgültig zu, mit dem Gesichtsausdruck von Profis, bei denen die Tötung eines Menschen keinen größeren Adrenalinausstoß hervorruft.
Sie stiegen ab. Falwick und der Zwerg kamen langsamen Schrittes näher.
»Ihr habt den edlen Tailles beleidigt, Hexer«, sagte der Graf unvermittelt und ohne die üblichen Höflichkeiten. »Und Tailles, wie Ihr Euch gewiss erinnert, hat Euch den Fehdehandschuh hingeworfen. Auf dem Gebiet des Heiligtums gebührte es sich nicht, Euch Mores zu lehren, also haben wir gewartet, bis Ihr hinter dem Rock der Priesterin hervorgekrochen kommt. Tailles wartet. Ihr müsst kämpfen.«
»Wir müssen?«
»Ihr müsst.«
»Meint Ihr nicht, Herr Falwick« – Geralt lächelte schief –, »dass der edle Tailles mir zu viel der Ehre erweist? Mir ist niemals die Ehre eines Ritterschlags zuteilgeworden, und was meine Geburt betrifft, so schweige ich lieber von deren Begleitumständen. Ich fürchte, ich bin nicht hinreichend geeignet, um ... Wie heißt das, Rittersporn?«
»Unfähig, Satisfaktion zu leisten und in die Schranken zu treten«, rezitierte der Poet mit geschürzten Lippen. »Der ritterliche Ehrenkodex besagt . . .«
»Das Ordenskapitel richtet sich nach seinem eigenen Kodex«, unterbrach ihn Falwick. »Wenn Ihr einen Ordensritter herausfordern würdet, könnte er Euch Genugtuung leisten oder es ablehnen, ganz nach Belieben. Es ist aber umgekehrt: Der Ritter fordert Euch heraus und erhöht Euch damit zu seinem Rang, natürlich nur für die Zeit, die notwendig ist, um die Beleidigung zu sühnen. Ihr könnt nicht ablehnen. Die Weigerung, die Ehre anzunehmen, würde Euch ehrlos machen.«
»Wie logisch«, sagte Rittersporn mit dem Gesichtsausdruck eines Affen. »Ich sehe, Ihr habt die Philosophen studiert, Herr Ritter.«
»Misch dich nicht ein.« Geralt hob den Kopf und sah Falwick in die Augen. »Redet weiter, Ritter. Ich möchte wissen, worauf Ihr hinauswollt. Was geschieht, wenn ich mich als ... ehrlos erweise?«
»Was dann geschieht?« Falwick verzog die Lippen zu einem boshaften Lächeln. »Dann lasse ich dich an einem Ast aufhängen, Hundsfott.«
»Gemach«, ließ sich plötzlich heiser der Zwerg vernehmen. »Ohne Aufregung, Herr Graf. Und ohne Schimpfwörter, ja?«
»Lehr du mich nicht Manieren, Cranmer«, presste der Ritter hervor. »Und denk dran, der Graf hat dir Befehle erteilt, die du genauestens auszuführen hast.«
»Erteilt Ihr mir nur keine Lehren, Graf.« Der Zwerg legte die Hand auf die hinterm Gürtel steckende Axt mit der Doppelschneide. »Ich weiß, wie man Befehle ausführt, und brauche keine Belehrungen. Herr Geralt, erlaubt. Ich bin Dennis Cranmer, Hauptmann der Wache Fürst Herewards.«
Der Hexer verbeugte sich steif und blickte in die Augen des Zwerges, die hellgrau und stählern unter aschblonden, buschigen Brauen lagen.
»Stellt Euch Tailles, Herr Hexer«, fuhr Dennis Cranmer ruhig fort. »Es ist besser so. Der Kampf soll nicht auf Leben und Tod gehen, sondern nur bis zur Kampfunfähigkeit. Stellt Euch also und lasst Euch kampfunfähig machen.«
»Wie bitte?«
»Ritter Tailles ist ein Liebling des Fürsten«, sagte Falwick und lächelte boshaft. »Wenn du ihn im Kampf mit dem Schwert berührst, Hexer, wirst du bestraft. Hauptmann Cranmer nimmt dich fest und bringt dich vors Antlitz Seiner Hoheit. Zur Bestrafung. So lauten seine Befehle.«
Der Zwerg würdigte den Ritter keines Blickes, er hielt den Blick seiner kalten, stählernen Augen auf Geralt geheftet.
Der Hexer lächelte leise, aber ziemlich giftig. »Wenn ich recht verstehe«, sagte er, »soll ich mich dem Zweikampf stellen, denn wenn ich ablehne, werde ich aufgehängt. Wenn ich kämpfe, muss ich zulassen, dass mich der Gegner verstümmelt, denn wenn ich ihn verwunde, werde ich aufs Rad geflochten. Eine äußerst erfreuliche Alternative. Vielleicht sollte ich Euch die Mühe abnehmen? Ich stoße mit dem Schädel gegen einen Baumstamm und mache mich selbst kampfunfähig. Würde Euch das Genugtuung verschaffen?«
»Lass den Spott«, knurrte Falwick. »Verschlimmere deine Lage nicht noch. Du hast den Orden beleidigt, du Lump, und musst dafür bestraft werden, hast du das vielleicht schon begriffen? Und der junge Tailles braucht den Ruhm, einen Hexer bezwungen zu haben, also will ihm das Kapitel diesen Ruhm zukommen lassen. Sonst würdest du hängen. Wenn du dich besiegen lässt, rettest du dein elendes Leben. An deiner Leiche ist uns nicht gelegen, wir wollen, dass Tailles dir ein paar Kerben ins Fell haut. Und dein Fell, dieses Mutantenfell, heilt ja schnell. Also los. Entscheide dich. Du hast keine Wahl.«
»Meint Ihr, Herr Graf?« Geralt lächelte noch giftiger, schaute sich um, ließ einen abschätzigen Blick über die Söldner schweifen. »Und ich denke, ich habe eine.«
»Ja, das ist wahr«, gestand Dennis Cranmer. »Ihr habt sie. Doch dann fließt Blut, viel Blut. So wie in Blaviken. Wollt Ihr das? Wollt Ihr Euer Gewissen mit Blut und Tod belasten? Denn die Wahl, an die Ihr denkt, Herr Geralt, bedeutet Blut und Tod.«
»Ihr sprecht zauberhaft, Hauptmann, geradezu begeisternd«, spottete Rittersporn. »Einem Mann, dem man im Wald aufgelauert hat, versucht ihr mit Menschlichkeit zu kommen, appelliert an seine hohen Empfindungen. Soviel ich verstehe, bittet Ihr ihn, er möge geruhen, das Blut der Mörder nicht zu vergießen, die ihn überfallen haben. Er möge sich der Sbirren erbarmen, denn die Sbirren sind arm, sie haben Frauen und Kinder, und wer weiß, womöglich sogar Mütter. Aber meint Ihr nicht, Hauptmann Cranmer, dass Ihr Euch zu früh Sorgen macht? Denn ich schaue auf Eure Lanzenträger da und sehe, wie ihnen allein beim Gedanken an einen Kampf mit Geralt von Riva die Knie zittern, mit dem Hexer, der mit bloßen Händen mit einer Striege fertig wird. Hier wird überhaupt kein Blut fließen, niemand wird zu Schaden kommen. Außer denen, die sich beim Weglaufen die Beine brechen.«
»Ich«, sagte der Zwerg ruhig und reckte rauflustig den Bart, »habe meinen Knien nichts vorzuwerfen. Ich bin bis heute vor niemandem weggelaufen und werde meine Gewohnheiten nicht ändern. Ich bin nicht verheiratet, von Kindern ist mir nichts bekannt, und meine Mutter, ein mir nicht näher bekanntes Fräulein, würde ich gern aus dem Spiel lassen. Aber die Befehle, die mir erteilt worden sind, führe ich aus. Wie üblich aufs Genaueste. Ohne an irgendwelche Gefühle zu appellieren, bitte ich Herrn Geralt von Riva, seine Entscheidung zu treffen. Ich werde jede akzeptieren und mich entsprechend verhalten.«
Sie blickten einander in die Augen, der Zwerg und der Hexer.
»Also gut«, sagte Geralt schließlich. »Bringen wir’s hinter uns. Schade um den Tag.«
»Ihr seid also einverstanden« – Falwick hob den Kopf, seine Augen blitzten –, »Euch dem edlen Tailles von Dorndal zum Kampfe zu stellen?«
»Ja.«
»Gut. Macht Euch bereit.«
»Ich bin bereit.« Geralt zog die Ärmel hoch. »Lasst uns keine Zeit verlieren. Wenn Nenneke von diesem Abenteuer erfährt, ist die Hölle los. Erledigen wir es rasch. Rittersporn, du bewahr Ruhe. Du hast damit nichts zu tun. Nicht wahr, Herr Cranmer?«
»Absolut«, bestätigte der Zwerg nachdrücklich und warf einen Blick auf Falwick. »Absolut, Herr Geralt. Was auch geschieht, es geht nur Euch an.«
Der Hexer zog das Schwert hinter den Schultern hervor.
»Nein«, sagte Falwick und zog sein eigenes Schwert. »Mit diesem Rasiermesser da wirst du nicht kämpfen. Nimm mein Schwert.«
Geralt zuckte mit den Schultern. Er nahm die Klinge des Grafen und holte zur Probe damit aus. »Schwer«, stellte er kühl fest. »Ebenso gut könnten wir uns mit Spaten schlagen.«
»Tailles hat genauso eins. Gleiche Chancen.«
»Ihr seid ungeheuer witzig, Herr Falwick. Einfach ungeheuer.«
Die Soldaten umringten die Lichtung in lockerer Kette, Tailles und der Hexer standen einander gegenüber.
»Herr Tailles? Was habt Ihr zur Entschuldigung zu sagen?«
Der Ritter presste die Lippen zusammen, legte den linken Arm hinter den Rücken und erstarrte in Fechtposition.
»Nein?« Geralt lächelte. »Ihr wollt nicht auf die Stimme der Vernunft hören? Schade.«
Tailles duckte sich, sprang vor, griff blitzartig an, ohne Vorwarnung. Der Hexer machte sich nicht einmal die Mühe einer Parade, sondern wich dem geraden Stich mit einer raschen halben Wendung aus. Der Ritter holte weit aus, die Klinge durchschnitt wieder die Luft, Geralt tauchte mit einer geschickten Pirouette unter der Schneide hinweg, sprang weich zur Seite und brachte Tailles mit einer kurzen, leichten Finte aus dem Rhythmus. Tailles fluchte, hieb mit Schwung von rechts her zu, verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht und versuchte es instinktiv wiederzuerlangen, indem er sich ungeschickt und hoch mit dem Schwert deckte. Der Hexer stieß mit der Geschwindigkeit und der Kraft eines Blitzes zu, schlug geradeaus, die Schultern weit vorgereckt. Die schwere Klinge prallte klirrend gegen das Schwert Tailles’, derart, dass es mit Macht zurückgeworfen wurde und ihn mitten ins Gesicht traf. Der Ritter heulte auf, fiel auf die Knie und berührte mit der Stirn das Gras. Falwick lief zu ihm hin. Geralt trieb das Schwert in den Boden und wandte sich ab.
»He, Wache!«, brüllte Falwick, indes er aufstand. »Packt ihn!«
»Halt! An die Plätze«, bellte Denis Cranmer und griff an die Axt. Die Söldner erstarrten.
»Nein, Graf«, sagte der Zwerg langsam. »Befehle führe ich immer aufs Genaueste aus. Der Hexer hat Ritter Tailles nicht berührt. Das Jüngelchen ist gegen das eigene Eisen geschlagen. Sein Pech.«
»Sein Gesicht ist ruiniert! Er ist fürs ganze Leben gezeichnet!«
»Die Haut wächst wieder zusammen.« Dennis Cranmer fixierte den Hexer mit seinen stahlgrauen Augen und bleckte die Zähne. »Und die Narbe? Für einen Ritter ist eine Narbe ein ehrenvolles Andenken, ein Grund für Ruhm und Lob, die ihm das Kapitel so sehr gewünscht hat. Ein Ritter ohne Narbe ist ein Schlappschwanz, kein Ritter. Fragt ihn, Graf, überzeugt Euch, dass er froh ist.«
Tailles wand sich am Boden, spuckte Blut, winselte und heulte; er sah gar nicht erfreut aus.
»Cranmer!« Falwick riss sein Schwert aus dem Boden. »Das wird dir noch leidtun, ich schwöre es!«
Der Zwerg wandte sich um, zog langsam die Axt hinterm Gürtel hervor, räusperte sich und spuckte saftig in die rechte Hand.
»Oi, Herr Graf«, sagte er knirschend. »Schwört keinen falschen Eid. Ich kann Leute, die falschen Eid ablegen, nicht ausstehen, und Fürst Hereward hat mir das Recht verliehen, solche einen Kopf kürzer zu machen. Ich will Eure dummen Worte überhört haben. Aber wiederholt sie nicht, ich bitte Euch sehr.«
»Hexer!« Falwick wandte sich wutbebend zu Geralt um. »Verschwinde aus Ellander. Auf der Stelle. Ohne den geringsten Aufschub!«
»Es kommt selten vor, dass ich mit ihm übereinstimme«, knurrte Dennis, während er an den Hexer herantrat und ihm sein Schwert überreichte, »aber in diesem Fall hat er recht. Verlasst mit angemessener Eile diese Gegend.«
»Wir werden tun, wie Ihr uns ratet.« Geralt streifte den Gurt über den Rücken. »Aber zuvor ... Ich habe noch ein Wort für den Herrn Grafen. Herr Falwick!«
Der Ritter der Weißen Rose blinzelte nervös und streifte die Hände an seinem Mantel ab.
»Wir wollen uns für einen Augenblick wieder dem Kodex Eures Kapitels zuwenden«, sagte der Hexer, bemüht, nicht zu grinsen. »Ich wüsste zu gern noch eines. Angenommen, ich würde mich von der Figur, die Ihr in dieser ganzen Sache gemacht habt, angewidert und beleidigt fühlen, und ich würde Euch auf Schwerter fordern, hier, sofort, auf der Stelle, was würdet Ihr tun? Würdet Ihr mich für hinreichend würdig halten, mit Euch die Klingen zu kreuzen? Oder würdet Ihr vielleicht ablehnen, obwohl Ihr wisst, dass ich Euch im Falle einer Ablehnung nicht einmal für würdig halten würde, Euch vor den Augen der Knechte anzuspucken, in die Fresse zu schlagen und in den Arsch zu treten? Graf Falwick, seid so gütig und geruht, meine Neugier zu befriedigen.«
Falwick erbleichte, trat einen Schritt zurück, blickte um sich. Die Söldner wichen seinem Blick aus. Dennis Cranmer verzog das Gesicht, streckte die Zunge heraus und spuckte in hohem Bogen aus.
»Ihr schweigt zwar«, fuhr Geralt fort, »doch ich höre in Eurem Schweigen die Stimme der Vernunft, Herr Falwick. Ihr habt meine Neugier befriedigt, nun will ich die Eure befriedigen. Falls Ihr wissen möchtet, was geschieht, wenn der Orden in irgendeiner Weise Mutter Nenneke oder den Priesterinnen Kummer bereitet oder wenn Hauptmann Cranmer über Gebühr bedrängt wird, dann wisst, Graf, dass ich Euch in diesem Fall ausfindig machen und Euch, ohne mich um irgendeinen Kodex zu scheren, wie ein Schwein abstechen werde.«
Der Ritter erbleichte noch mehr.
»Vergesst mein Versprechen nicht, Herr Falwick. Komm, Rittersporn. Für uns ist es Zeit. Mach’s gut, Dennis.«
»Viel Glück, Geralt.« Der Zwerg lächelte breit. »Mach’s gut. Ich bin sehr erfreut über unsere Begegnung und hoffe auf weitere.«
»Ganz meinerseits, Dennis. Also dann bis bald.«
Sie ritten demonstrativ langsam weg, ohne sich umzublicken. Erst als sie im Wald verschwunden waren, ließen sie die Pferde traben.
»Geralt«, ließ sich plötzlich der Dichter vernehmen. »Wir reiten doch nicht geradewegs nach Süden? Wir werden einen Bogen um Ellander und die Ländereien von Hereward machen müssen? Was? Hast du vor, dieses Schauspiel fortzusetzen?«
»Nein, Rittersporn. Das habe ich nicht vor. Wir reiten durch die Wälder, und später biegen wir auf den Händlerweg ein. Denk dran: zu Nenneke kein Wort über diese Rauferei! Kein Sterbenswörtchen.«
»Ich hoffe, wir brechen unverzüglich auf?«
»Sofort.«